Neun Meistertouren, unzählige Erlebnisse: Flämische Kunst in situ
Es ist still im ehemaligen Krankensaal des Sankt-Jans-Hospitals in Brügge. Durch die hohen Sprossenfenster fällt das Licht schräg auf die alten Steinfliesen, der Raum riecht nach Holz und Geschichte. Dann richtet sich der Blick auf das Triptychon von Hans Memling. Fast fünfhundert Jahre alt und doch scheint es, als ob der Maler gerade erst den Pinsel aus der Hand gelegt hätte. Genau für diesen Ort, für den Altar der Kapelle, entstand einst dieses Werk und heute hängt es nur wenige Schritte vom ursprünglichen Platz entfernt. Wer davorsteht, spürt plötzlich die Nähe zum Meister selbst: das gleiche Licht, die gleiche Atmosphäre – als hätte die Zeit eine Brücke geschlagen.
Kunst an authentischen Orten
Dieses Erlebnis ist der Kern von Flämische Meister in situ: Kunstwerke dort entdecken, wo sie einst geschaffen wurden oder wofür sie gedacht waren. Mehr als hundert Orte in ganz Flandern gehören zu diesem Projekt. Viele davon liegen abseits der bekannten Metropolen wie Antwerpen, Gent oder Brügge, verborgen in Dorfkirchen, Klöstern, Schlössern oder Patrizierhäusern. Dort entfalten die Werke ihre Wirkung besonders intensiv, eingebettet in die Räume, für die sie einst erschaffen wurden.
Um diese Schätze sichtbar zu machen, wurden neun sogenannte Meistertouren entwickelt. Sie bilden einen roten Faden durch ganz Flandern. Jede Tour verbindet unterschiedliche Stätten einer Region miteinander und lädt dazu ein, Kunstgenuss mit Bewegung und Kulinarik zu kombinieren. Ob per Rad, zu Fuß oder bei einer Pause im Café: Die Meistertouren machen Geschichte, Kultur und Lebensart gleichermaßen erlebbar.
Brügge: Schatzkammer der Meisterkunst
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist die Meistertour Brügge. Die UNESCO-Welterbestadt ist selbst schon ein Kunstwerk aus Backsteinfassaden, Kanälen und Kopfsteinpflaster und birgt zugleich einzigartige Meisterwerke an Originalschauplätzen und abseits der Touristen-Hotspots.
Im Sankt-Jans-Hospital findet man sieben Exponate von Hans Memling, darunter der berühmte Ursula-Schrein. Vier Werke wurden eigens für das Hospital erschaffen und sind seit über 500 Jahren an diesem Ort geblieben. Der Schrein der heiligen Ursula zeigt in detailreichen Szenen den Pilgerweg der Heiligen von Köln nach Rom – eine Miniaturkapelle, rundum bemalt und voller Symbolkraft.
Auch die Adornes-Domäne ist eine Reise in die Vergangenheit. In der Privatkapelle der einflussreichen Kaufmannsfamilie scheint die Zeit stillzustehen. Errichtet im 15. Jahrhundert nach dem Vorbild der Grabeskirche in Jerusalem, ist sie bis heute ein eindrucksvolles Zeugnis tiefer Religiosität und familiärer Tradition.
Nicht minder faszinierend ist die Liebfrauenkirche. Sie birgt die Gebeine Maria von Burgunds, die mit nur 25 Jahren verstarb. Ihr reich verzierter Sarkophag, geschaffen von Jan Borman und Renier van Thienen aus regionalen Materialien, gilt als Meisterwerk flämischer Bildhauerkunst – filigran gearbeitet und zugleich von erhabener Ruhe.
Dies sind nur drei Stationen der Meistertour Brügge – viele weitere Orte warten darauf, entdeckt zu werden und machen die Stadt zu einer wahren Schatzkammer flämischer Kunst.
Mehr als Brügge – Meisterwerke im ganzen Land
Jede der neun Meistertouren lädt dazu ein, eine Region Flanderns neu zu entdecken – immer mit Kunstwerken am authentischen Ort, ergänzt durch stimmige Rad- und Wander-Routen und kulinarische Erlebnisse unterwegs.
Antwerpen: Die Tour auf den Spuren von Peter Paul Rubens zeigt sein Genie dort, wo er lebte und wirkte. In der Liebfrauenkathedrale hängen monumentale Altarbilder, während man in der historischen Druckerei Plantin-Moretus eine ganz andere Seite seines Schaffens entdecken kann. Rad- und Spazierwege verbinden die Stationen – begleitet von zahlreichen Möglichkeiten, in der lebendigen Stadt einzukehren.
Leie-Region bei Gent: Malerische Flusslandschaften inspirierten die Künstlerkolonie von Sint-Martens-Latem. Hier öffnen Museen, ehemalige Ateliers und sogar Privatsammlungen ihre Türen. Die Tour verbindet Orte entlang des Leie-Radwegs und lädt dazu ein, die Region mit allen Sinnen zu erleben.
Küste: In Oostende und anderen Küstenorten begegnet man James Ensor, Léon Spilliaert, Paul Delvaux oder Constant Permeke. Ihre Werke spiegeln die raue See, das Licht und die Atmosphäre der Küste. Die Meistertour führt zu Museen, Wohnhäusern und Aussichtspunkten – ergänzt um kulinarische Stopps mit Blick aufs Meer.
Mechelen: In der Stadt der Glockenspiele widmet sich eine Tour den Meistern von Mechelen. Die St.-Rombouts-Kathedrale und ihre prachtvollen Altäre bezeugen die Bedeutung der Stadt im 16. Jahrhundert. Cafés und kleine Restaurants entlang des Weges lassen die historische Kulisse lebendig werden.
Neben den genannten Beispielen führen weitere Meistertouren durch die kulturreichen Regionen Flanderns und eröffnen dabei immer neue Blickwinkel auf Geschichte, Kunst und Lebensart. So entfaltet jede Tour ihre eigene Mischung aus Kunst, Natur und Genuss. Gemeinsam machen sie Flandern zu einem großen, offenen Kunstraum – vielfältig, überraschend und stets nah am Leben.
Ein Land wie ein Museum
Flandern gleicht einem einzigen großen Museum – doch nicht in sterilen Räumen, sondern eingebettet in Kirchen, Klöster, Kapellen, Bürgerhäuser oder Landschaften. Wer die Flämischen Meister in situ besucht, erlebt Kunstwerke so, wie sie ursprünglich gedacht waren: nicht losgelöst, sondern im Dialog mit Raum, Licht und Atmosphäre.
So wird aus dem Museumsbesuch eine Zeitreise, die Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbindet. Ein Erlebnis, das man nicht vergisst – und das Lust macht, Flandern immer wieder neu zu entdecken.
Bilder:
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